Ob bei politischen Auseinandersetzungen, im öffentlichen Raum, im beruflichen oder privaten Umfeld – das Thema Gewalt ist nicht nur in den weltweiten Krisenregionen präsent. Gewalt ist vielmehr ein alltägliches Phänomen, das kultur- und epochenübergreifend auftritt. Das Thema hat vor dem Hintergrund des gegenwärtigen globalen Terrors sowie den massenhaften Fluchtbewegungen, die „alles davor Gewesene in den Schatten stellen“(1), eine Aktualität wie nie zuvor, wie eine Untersuchung des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen für das Jahr 2015 zeigt. Demnach waren Ende 2014 mehr als 59 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg und Gewalt – mehr als je zuvor in der Geschichte der modernen Zivilisation(2).
So ist es kaum verwunderlich, dass die Themen Gewalt und Krieg auch zunehmend in den künstlerischen Bereich übertreten. Zwar waren Gewalt, Tod, Kriege und Waffen bis in das 18. Jahrhundert hinein ein häufiges Sujet der religiös-mythologischen Historienmalerei und das Märtyrerbild eine beliebte Rechtfertigung für Gewaltdarstellung(3), der Gewaltbegriff wurde jedoch seit dem 20. Jahrhundert im Bereich der Kunstwissenschaft lange Zeit vernachlässigt. Er trat erstmals in den 1960er Jahren im Zuge der Performancekunst und der „Gewalt am eigenen Körper“ präsent in den Bereich der Kunst und ihrer Forschung über(5).
Doch wie hat sich der Gewaltbegriff im Laufe der Geschichte verändert? Dem oftmals diffusen Begriff liegen unterschiedliche Theorien zugrunde, die von körperlicher, systematisierter und symbolischer, bis hin zu direkter und indirekter Gewalt reichen. Sie spiegeln wieder, dass Gewalt bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein vor allem instrumentell definiert war. Als Staatsgewalt zugunsten der inneren und äußeren Ordnung und des Friedens wurde Gewalt, auch in Form von Kriegen, als legitimes Mittel angesehen.
Dieses Verständnis hat sich in den letzten Jahren gewandelt, insbesondere seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Die Gewalt, die heute nicht nur die Medien, sondern auch den kulturellen Bereich einnimmt, ist eine andere. Es geht nun mehr um Terror, um territoriale Macht, Moral und Religion(6). Im Vollzug der Globalisierung und Digitalisierung verhält sich auch die Kriegsausführung – die Waffen – anders. Statt sich auf dem Kriegsfeld mit Speeren oder Gewehren direkt gegenüberzustehen, können heute cruise missiles aus großer Distanz abgefeuert werden, um ihr Ziel nahezu autonom zu zerstören. So wird der Kampf zumindest für eine Seite wesentlich abstrakter.
Ein Künstler, der sich diesem Thema annimmt und mit der ambivalenten Faszination von Waffen zwischen archaisch lustvollem Machtsymbol und todbringendem Agenten spielt, ist Sebastian Schmidt. In seiner Werkreihe missiles, die er 2011 begann und 2018 abschließen wird, setzt er den Gewaltbegriff der Gegenwart und unser Verständnis davon eindrucksvoll in Szene. Schmidt macht jene Gewalt, die heute immer unsichtbarer und unmittelbarer erscheint, sichtbar. Waffentechnologien, die sich jeglichem traditionellen Verständnis von Krieg und Gewalt entziehen, stellen heute den Normalfall dar – und genau jene Technologisierung, jene Intransparenz stellt Schmidt in seinem Werk auf eine ganz hyperrealistische Weise dar.
Sein Projekt umfasst die detailgetreue Darstellung von neun unterschiedlichen ferngesteuerten Raketen. In nahezu Original-Maßstab zeigen die kolossalen Bilder die homogenen Flugkörper in schwarz oder weiß vor einem schlichten ebenfalls schwarzen oder weißen Hintergrund. Ein genauer Blick auf die technischen Details zeigt die jeweilige Benennung der Rakete. Die nationalen Symbole sind allesamt entfernt und die Flugkörper nach altertümlichen Göttinnen benannt worden, die sowohl kriegerische als auch liebesbezogene Attribute in sich vereinen. So zum Beispiel Freya als Göttin der Liebe und der Ehe, Andraste als britannische Kriegsgöttin, Milda als litauische Liebesgöttin und Symbol der Freiheit und Unabhängigkeit, Vihansa als germanische Kriegsgöttin oder Epona als keltische Göttin der Fruchtbarkeit.
Während sich vor allem Jungs im Kinder- und Jugendalter stolz zu jeder Gelegenheit – sei es als Cowboy, Pirat oder später im Egoshooter – mit Spielzeugwaffen angreifen, stellt sich Schmidt die Frage, was von dieser kindlichen Faszination am Kampf im aufgeklärten Erwachsenenalter übriggeblieben sei. Um eine Antwort zu finden, hat sich der Künstler nicht etwa für die Darstellung von Handfeuerwaffen, die uns vielleicht erreichbarer und in der heutigen Welt allgegenwärtiger erscheinen, entschieden. Er versucht vielmehr den Betrachter durch die Konfrontation mit den missiles – absolut unzugänglichen und ballistischen Militärraketen – dazu zu bringen über die kontroverse Anziehungskraft der Waffe zu reflektieren und lässt ihn somit selbst zu einer persönlichen Antwort finden.
Die Darstellung seiner gewaltigen Geschosse scheint so realistisch, dass man zunächst von einer Fotografie ausgeht. Doch eigentlich sind es computergenerierte Kunstwerke, die bis ins kleinste Detail nachmodelliert und physikalisch korrekt gerendert wurden. Vorerst umgeht der Künstler hiermit das Problem der Unerreichbarkeit des gezeigten Objekts, denn es ist geradezu unmöglich im Dienst befindliche Marschflugkörper in ein Fotostudio zu bekommen.
Des Weiteren führen die verfeinerten Möglichkeiten der Bildbearbeitung zu einer gewissen „Dematerialisation“ der naturalistischen Repräsentation oder zumindest zu einer Neudefinition des Verhältnisses von Betrachter, Natur und Abbildung. Es können weitaus detailliertere Bilder ermöglicht werden, als jemals mit einer Kamera erzielt werden können(7). Die Detailgenauigkeit von Schmidts missiles offenbart sogar feinste Kratzer in der Oberflächenstruktur. Durch den „Hyperrealismus“ in dem uns die Flugkörper präsentiert werden, entsteht eine intensivierte Wirklichkeit, eine beinahe greifbare Realität, die genau jene Undurchschaubarkeit der heutigen Waffentechnologie kritisiert und den Betrachter auf paradoxe Weise damit konfrontiert.
War der Computer seit seiner Entwicklung in den 1940er Jahren eine Maschine, die in erster Linie naturwissenschaftliche Aufgaben lösen und kein Werkzeug für Künstler sein sollte, hat sich die Digital Art seit der Jahrtausendwende mehr und mehr als kommerzielle Kunstform etabliert. Mit den ersten generativen Computergrafiken in den 1960er Jahren war der Grundstein für eine neue Entwicklung in der zeitgenössischen Kunst gelegt, die nach der Postmoderne unser ästhetisches Verständnis von Kunst so verändern sollte, wie es zuletzt die Fotografie im 19. Jahrhundert tat. Mit dem Whitney Museum of American Art in New York und dem Walker Art Center in Minneapolis erhielt die digitale Kunst erstmals Zugang in den musealen Kontext und wurde Teil fester Sammlungsbestände(8).
Sebastian Schmidt befragt in seiner Werkreihe missiles zum einen das kritische Verhältnis vom Menschen zur Waffe, in dem trotz aller Aufklärung und Bildung meist noch immer eine gewisse Begeisterung für das archaische Machtsymbol schlummert. Und zum anderen wird auch das Verhältnis von unserem traditionellen Kunstverständnis zur Digital Art und ihren Möglichkeiten Unsichtbares und Unerreichbares sichtbar zu machen, hinterfragt.
(2) ebd., vgl. auch Max Borka: Brutal Schön - Gewalt und Gegenwartsdesign, Ausst. Kat., Marta Herford, Bielefeld 2016, S.9
(3) Klaus Herding: Kunst und Gewalt - Gewalt in der Kunst - Kunstgewalt, in: Anna Pawlak, Kerstin Schankweiler (Hg.): Ästhetik der Gewalt. Gewalt der Ästhetik, Weimar 2013, S.18
(4) Vgl. Ellen Blumenstein, Daniel Tyradellis (Hg.): Friendly Fire & Forget, Ausst. Kat., KW Institute for Contemporay Art, Berlin 2015
(5) Vgl. Herding, S.15 ff.
(6) Vgl. Borka, S.10
(7) Christiane Paul: Digital Art, München 2011, S.41 ff.
(8) Wolf Lieser: Digital Art. Neue Wege in der Kunst, Potsdam 2010, S. 14; 21 ff.